Während draußen der Krieg tobt, verwandelt die resolute Oum Yazan ihre kleine Wohnung in einen sicheren Hafen für Familie und Nachbarn. Verzweifelt versucht sie, zum Schutz der Gemeinschaft den Alltag aufrechtzuerhalten und das Geschehen außerhalb auszublenden. Doch früher oder später muss auch sie die Tür öffnen und die Wirklichkeit hereinlassen.
Bestürzend intensiv zieht INNEN LEBEN den Zuschauer hinein in die Kriegswirklichkeit der einfachen Menschen, für die das einst traute Heim zum Gefängnis wird und jede noch so kleine Entscheidung über Leben und Tod bestimmen kann. INNEN LEBEN ist ein universelles, humanistisches Plädoyer von großer Dringlichkeit. Der Film gewann auf der 67. Berlinale den Publikumspreis der Sektion Panorama.
Terror und Liebe in Damaskus
Leben im Ausnahmezustand: Der Berlinale-Film INNEN LEBEN zeigt den Syrienkrieg als beklemmendes Kammerspiel. Von Philip Dulle (Profil, 12. 2. 2017)
Der Schlag in die Magengrube kommt bereits nach wenigen Minuten. Ein junger Mann wird von einem Scharfschützen über den Haufen geschossen. Mithilfe eines ausländischen Journalisten hatte er gerade noch die Flucht mit seiner kleinen Familie aus Syrien geplant. Seine Frau und das Kind bleiben als Teil einer zufälligen Wohngemeinschaft zurück.
Während in den Straßen und Plätzen der syrischen Hauptstadt der Krieg wütet und die Autobomben im Stakkato detonieren, versucht die starke Familienmutter (Hiam Abbass) den Alltag so gut wie möglich aufrechtzuerhalten. Die Familie trifft sich mittags am großen Esstisch. Es gibt kaum noch Wasser, jeder Schritt vor die Tür ist gefährlich. Der Großvater unterrichtet den kleinen Enkel. Das Leben außerhalb der eigenen vier Wände scheint für den Alten nicht mehr zu existieren. Die Wohnung, einst trautes Heim, ist zum Gefängnis geworden.
Dieser Kampf ist nicht zu gewinnen
Es braucht nur wenige Einstellungen, um den Zuschauer in den permanenten Ausnahmezustand des Krieges hineinzuversetzen. Der belgische Regisseur und Kameramann Philippe Van Leeuws hat mit „Insyriated“ nicht nur einen der wichtigsten Filme der Panorama-Schiene des Festivals vorgestellt, er versetzt die Zuseher auch in eine kaum auszuhaltende Situation. Kein Wunder: Während man in einem Berliner Kinosaal den Schicksalen dieser zufälligen Schicksalsgemeinschaft folgt, wütet der Kriegsterror in Syrien bereits im siebten Jahr. Ein Ende scheint mit jedem neuen Monat weiter in die Ferne zu rücken. Antworten auf dringliche Fragen fehlen.
Der Film stellt die Zuseher vor unbeantwortbare Fragen: Ist zu verantworten, ein Mitglied der Gemeinschaft auszuliefern, um das Überleben der anderen zu sichern? Philippe Van Leeuws Kammerspiel zeigt Menschen in einer extremen Situation, die extremes Verhalten hervorbringt.
INNEN LEBEN zeigt dabei eindrucksvoll: Dieser Kampf ist nicht zu gewinnen. Im Krieg gibt es keine Gewinner und keine richtigen Antworten. Man kann nur genauer hinschauen und vom Kriegstreiben berichten. Das ist die Agenda dieses Film.
Regie: Philippe Van Leeuw / Drehbuch: Philippe Van Leeuw / Kamera: Virginie Surdej / Schnitt: Gladys Joujou / Musik: Jean-Luc Fafchamps / Ton: Paul Heymans, Olivier Mortier, Alek Gosse, Chadi Roukoz / Ausstattung: Kathy Lebrun / Kostüm: Claire Dubien / Produktion: Minds Meet, Né à Beyrouth, Versus Production, Voo, Be Tv / Produzenten: Guillaume Malandrin, Serge Zeitoun / Mit: Hiam Abbass, Diamand Abou Abboud, Juliette Navis, Mohsen Abbas, Moustapha Al Kar, Alissar Kaghadou, Ninar Halabi, Mohammad Jihad Sleik
Belgien/Frankreich/Libanon 2017 / 85 Minuten / DF, OmU